Bundeswahl-Reform rechtmäßig? Bundesverfassungsgericht: „Teilweise Ja, teilweise Nein“

30.07.2024

Probleme gibt es bei der Sperr- und Grundmandatsklausel – Gesetzgeber ist gefordert

Wie gerecht ist das bundesdeutsche Wahlsystem? Weil der Bundestag wegen zahlreicher Überhang- und Ausgleichsmandate in den vergangenen Jahren immer größer (736 statt 630 Abgeordnete) – und damit kostenintensiver – wurde, hat die aktuelle Ampel-Koalition eine Reform des Wahlrechts beschlossen. Dagegen aber hat die CSU geklagt, weil sie befürchtet, nach dem neuen System zahlreiche Direktmandate zu verlieren.

Nun hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe am 30. Juli 2024 ein Urteil zu dem Streit gesprochen: das Zweitstimmendeckungsverfahren in §1 Abs. 3, §6 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG) sind demnach mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar.



Jedoch verstoße eine andere neue Regelung gegen das Grundgesetz: die Abschaffung der 5%-Sperrklausel (Grundmandatsklausel). Diese bewirkt bislang, dass nur Bewerber solcher Parteien in den Bundestag einziehen, die mindestens 5% der bundesweiten Zweitstimmen erhalten haben oder alternativ drei Wahlkreissiege erzielen.

 

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Würden die CSU und Die Linke also leer ausgehen?

Das bedeutet: Nach diesem Verfahren, das zur Bundestagswahl 2025 angewendet werden sollte, würden Wahlkreisbewerber mit den meisten Erststimmen nur dann ein Bundestagsmandat erhalten, wenn es von dem aus dem Zweitstimmenergebnis ermittelten Sitzkontingent ihrer Partei gedeckt ist.

 

Die CSU aus Bayern ist ein Sonderfall im deutschen Bundestag, weil sie sich als separate „Schwesterpartei“ der CDU sieht, die alle anderen Bundesländer vertritt. Beide Parteien stellen auch ein gemeinsames Wahlprogramm auf und bilden eine gemeinsame Fraktion.

Die zahlreichen CSU-Wahlkreiskandidatinnen und -Kandidaten aus Bayern, die sich über die Erststimme Direktmandate sichern konnten (was dann zu mehr Überhang- und Ausgleichsmandaten führte), könnten dann trotz Wahlerfolg leer ausgehen. Denn die Besetzung und Verteilung der Mandate pro Partei soll sich nun an der Sitzzahl orientieren, die sich aus der Abgabe der Zweitstimmen ergibt.

Das würde auch für Die Linke gelten, die 2021 an der 5%-Sperrklausel scheiterte, aber mit drei Direktmandaten dennoch im derzeitigen Bundestag vertreten ist.

„Diese 5%-Sperrklausel ist unter den geltenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen nicht in vollem Umfang erforderlich, um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern“, heißt es in der Erklärung zum Urteil. „Werden Parteien, die in dieser Form kooperieren, bei der Anwendung der Sperrklausel gemeinsam berücksichtigt, stellt dies eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Parteien dar. Sie erhalten – anders als andere Parteien – auch dann Bundestagsmandate, wenn jede Partei für sich die Voraussetzung des §4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG nicht erfüllt.

 

Wie also soll man nun mit diesem Sonderfall umgehen? Da muss nun der Gesetzgeber nochmal ran und muss die Sperrklausel „in anderer Weise modifizieren“. 

Da die nächste Bundestagswahl bereits in ca. 13 Monaten stattfindet, hat das Gericht festgelegt: „Bis zu einer Neuregelung gilt [die Sperrklausel] mit der Maßgabe fort, dass bei der Sitzverteilung Parteien mit weniger als 5% der Zweitstimmen nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen auf sich vereinigt haben.“

 

Reaktionen von CDU und Grünen

Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz, wertet nun das Urteil so: „Mit den Fraktionen der Ampel waren wir uns immer einig, dass der Bundestag verkleinert werden muss. Die Ampel hat unsere Vorschläge aber abgelehnt und stattdessen ein Wahlrecht verabschiedet, das heute vom Bundesverfassungsgericht in einem wesentlichen Teil für verfassungswidrig erklärt wurde. Damit ist der Versuch der Ampel, mit Hilfe des Wahlrechts politische Konkurrenten auszuschalten, vor dem Bundesverfassungsgericht erwartungsgemäß gescheitert.“

 

Auch wenn das Zweitstimmendeckungsverfahren für grundgesetz-gemäß angesehen wurde, vertritt die Union weiterhin die Auffassung, „dass dieses Verfahren bei der nächsten Bundestagswahl zu einer unangemessenen Benachteiligung insbesondere von Wahlkreisbewerbern der CDU und der CSU führen wird“, so Merz: „Das Wahlkreismandat wird nach dem Wahlrecht der Ampel entwertet, dieses Wahlrecht schadet dem Grundsatz der demokratischen Repräsentanz der Wahlkreise im Deutschen Bundestag.“

 

Britta Haßelmann, Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen, dagegen zeigt sich zufrieden mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Es herrsche „jetzt Klarheit darüber unter welchen Bedingungen der nächste Bundestag gewählt werden kann“, erklärte sie dem Fernsehsender Phoenix. Die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition sei in ihrem Kern verfassungskonform und der kommende Bundestag werde deutlich verkleinert, „berechenbar und verlässlich für alle Bürgerinnen und Bürger“.

Die Grundmandatsklausel solle nach dem Urteil bestehen bleiben, einer möglichen Absenkung auf eine Drei-Prozent-Hürde erteilt sie eine Absage.

 

Bericht: Achim Kaemmerer
Fotos: Udo Pohlmann/simonschmid614 / Pixabay

 


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